Gruselgeschichte „Kleine Teufel“ von Nathaniel Simon Laval

Kleine Teufel von Nathaniel Simon LavalDieser Text stammt vom Creepypasta Fandom (Immer einen Besuch wert!!) und unterliegt der Nutzung von Community-Inhalten gemäß CC-BY-SA. Dieses Werk unterliegt der CC-BY-SA 3.0 Lizenz „Namensnennung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen“. Hier geht es zur Originalgeschichte.
Kinder sind unschuldig. So sagt man doch.

Kleine Unschuldsengel, die niemandem etwas Böses tun können. Nicht absichtlich zumindest. Nicht vorsätzlich.

Wie viel Wahrheit in diesen Annahmen steckt, liegt wohl in der Beurteilung des Individuums und seinen Erfahrungen. Aber sehen und entscheiden Sie selbst, nachdem Sie folgenden Lämmer beigewohnt haben, die, statt zur Schlachtbank geführt zu werden, selbst die Position des Henkers einnahmen.

W-w-warum…?

Ein gerammelt volles Klassenzimmer. Unterricht. Weitgehend gebanntes Lauschen der Worte, die aus dem Mund der Lehrerin sprudeln. Nur in einigen Ecken wird leise getuschelt oder sich anderweitig beschäftigt. Die Kinder sind gut erzogen. Ihr Verhalten ist nicht makellos, aber auf einem hohen Niveau, das Arbeitsklima entspannt.

Es klingelt, der Unterricht endet, die Pause wird eingeläutet. Einige der Kleinen springen auf. Nach einer Dreiviertelstunde sind sie voller Taten- und Bewegungsdrang. Sie haben es sich verdient. Andere bleiben sitzen, holen ihre Schulbrote heraus oder beginnen sich ungezwungen mit ihrem Sitznachbarn zu unterhalten. In diesen freien Minuten gibt es keine höhere Instanz, die es ihnen untersagen würde. Sie wissen es zu schätzen.

In den hinteren Reihen bereden zwei Jungen die ernsten Themen ihres derzeitigen Lebensabschnittes. Ob sie es nach der Schule schaffen, rechtzeitig nach Hause zu kommen, um ihre Lieblingssendung zu sehen, beispielsweise.

Einen Tisch rechts von ihnen sitzen zwei Mädchen und tun dasselbe, eines von ihnen stottert stark. Das tut sie schon ihr Leben lang. Für sie ist es normal, obgleich sie weiß, dass sie anders ist als die anderen Kinder, was sie jedoch nicht stört. In ihrem derzeitigen Umfeld wird sie deswegen weder aufgezogen noch sonderbehandelt.

Mitten im Gespräch unterbricht einer der Jungen und dreht sich zu den anderen beiden um. In seiner Mimik arbeitet es. Hinter seiner Stirn manifestiert sich immer stärker ein Gedanke oder vielmehr eine Frage, die einfach ausgesprochen werden muss. Jetzt. Nicht morgen, nicht in einer Minute, nein, jetzt. Sein junger Geist ist neugierig, häuft Wissen an, wie ein Schwamm Wasser aufsaugt. Vor allem aber ist er moralisch neutral eingestellt. Wissen ist erst einmal nur das: Wissen. Die Bewertung kommt später. Ebenso das Taktgefühl, das bei der Erlangung manchmal angebracht wäre.

„Warum sprichst du eigentlich so komisch?“, platzt es einfach aus ihm heraus.

Das stotternde Mädchen verstummt und blickt betrübt auf ihren Tisch herab. Die Frage hat sie hart getroffen. Erstmalig in ihrem Leben ist sie so direkt darauf angesprochen worden. Komisch. Als wäre sie eine Außerirdische oder so etwas.

Der Junge versteht es nicht. Er hat doch nur eine Frage gestellt. Was könnte daran verwerflich sein?

Die Freundin greift ein. „Sie stottert“, erklärt sie mit leicht angesäuerter Miene, weil ihre Gesprächspartnerin verletzt worden ist. „Und ich bin ihre beste Freundin!“, fügt sie noch mit erkennbarem Stolz in der Stimme hinzu. Sie ist zu jung, als dass man bei ihrem Einsatz für die „Schwächere“ annehmen könnte, sie täte es nur, um sich über andere zu erheben und als etwas Besseres darzustellen, doch die Tendenz zu einem solchen Verhalten ist bereits erkennbar.

Nicht, dass der Junge es verstehen würde. Er kann nur unverständlich den Kopf über die letzte Aussage schütteln. Inwieweit hängt die Freundschaft der einen zu der anderen mit seiner Frage zusammen? Immerhin erkennt er, dass er hier wohl keine weiteren Antworten zu erwarten hat, weswegen er sich resigniert abwendet, wieder in einem Gespräch mit seinem Kumpel versinkt und schon wenige Minuten später keinen einzigen Gedanken mehr an das Geschehene verschwendet.

Das Mädchen jedoch wird sich noch lange mit diesem Ereignis beschäftigen. Vielleicht nicht gleich, denn dazu hat sie kaum Gelegenheit. Wenige Augenblicke später – was sind schon ein paar Minuten Pause, wenn man in der Schule sitzt? Nicht viel mehr als ein Wimpernschlag – ist die Lehrerin wieder zur Stelle und verlangt ihre Aufmerksamkeit.

Abends allerdings wird sie sich erinnern. Vielleicht träumt sie gar von dieser wertungsfrei gemeinten Frage, die sie so hart und unerwartet getroffen hat.

Am nächsten Tag wird sie ganz beiläufig ihren Eltern davon erzählen und damit eine fast schon vergessene Sorge entfachen. Sie waren so glücklich darüber gewesen, als sie mitbekommen hatten, wie gut man ihre Tochter in der Schule aufgenommen hat, trotz ihres „Problems“, das natürlich keines war. Niemand in ihrem Haus würde sich wagen, in ihrem Zusammenhang von einem Problem zu sprechen.

Jetzt ist es also soweit, werden sie denken. Freilich ohne es laut auszusprechen, denn das zu tun, würde einem Eingeständnis gleichkommen. Es würde die Sache ernst werden lassen. Zumindest eine Weile lang wollten sie es lieber noch totschweigen. Dass sie damit das genaue Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich wollen, können sie ja nicht ahnen.

Das Problem – das keines ist – gärt seit jenem Tag, an dem ihre Tochter das Thema so lapidar auf die Tagesordnung gesetzt hat. Auch wenn es zu keinen weiteren Zwischenfällen dieser Art gekommen ist, denken sie regelmäßig daran. Sie fürchten sich davor, dass es erneut geschehen könnte, dass ihre kleine Maus nach Hause käme, in Tränen aufgelöst und ihnen mühselig stotternd erklären würde, dass die anderen Kinder gemein zu ihr gewesen wären. Wie sollten sie dann reagieren, was sollten sie tun?

Eine weitere Sache, die ihnen zwar durch den Kopf geht, die sie aber nie in den Mund nehmen, ist folgende: Sie verfluchen den Jungen, der diesen Stein ins Rollen gebracht hat. Es ist nicht einmal ein richtiger Gedanke, mehr ein Gefühl, und eigentlich nicht einmal das, eher die Ahnung einer Emotion. Der feine Hauch, der sie fortan in ihrem Tun und Denken lenkt. Wie ein leises Flüstern, das ihnen mitteilt, dass sie sich früher oder später dieses… komplizierten Konstruktes, das unter gar keinen Umständen mit einem P beginnt, annehmen müssen.

Somit kommt es zu jenem schicksalhaften Tag, an dem urplötzlich das ausgesprochene Wort „Therapie“ im Raum hängt. Es ist schwer und verheißungsvoll und es allein zu hören versetzt das Mädchen in Angst.

Einmal angebracht, sind die Eltern nicht mehr zu halten. Sie denken, es ist das Beste für ihre Kleine, und das wollen sie doch auch: nur das Beste. Sie handeln in dem guten Glauben, ihr zu helfen. Sie meinen es nur gut. Und insgeheim beruhigen sie so ihr eigenes Gewissen.

Die Therapie ist eine Münze. Sie besitzt zwei Seiten.

Auf der einen hilft sie tatsächlich. Das Mädchen wird nicht von ihrem Stottern befreit, aber bekommt es zumindest soweit in den Griff, dass es fast kaum mehr auffällt. Meistens jedenfalls.

Die andere Seite der Medaille hat sie in ihrem kindlichen Verstand maßgeblich beeinflusst. Ob in gutem Willen oder nicht, ihre Eltern haben ihr Wort gebrochen. Ihre ständige Versicherung, dass ihre Maus normal wäre und es keinen Grund gäbe, sich für irgendetwas schämen zu müssen, war schlichtweg Heuchelei – auch wenn sie dieses Wort zu jener Zeit natürlich noch nicht kennt. Die Therapie macht ihre Sprachstörung für sie zum Problem. Ein Empfinden, das sie nie wieder los wird und ihre Störung immer dann, noch extremer als vor der Therapie, hervorbrechen lässt, wenn sie daran denkt und dann nervös wird. Was in den folgenden Jahren viel zu häufig der Fall ist.

Je älter sie wird, desto mehr Menschen begegnen ihr, die nicht so handzahm mit ihrem Problem umgehen. Die darüberstehen können, die sie als Menschen und nicht als Stotterin sehen, die es gar nicht erst erwähnen oder, wenn doch, nur aus unverhohlener Neugierde fragen.

Jedes Mal, wenn sie auf solche Leute trifft, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Die Angst, sich stärker als ohnehin schon in ihrer Störung zu verlieren. Die Nervosität fördert genau das zutage, was ihren Peinigern nur noch mehr Angriffsfläche bietet.

Ein Leben lang muss sie sich so durchkämpfen, wobei die Arschlöcher der Welt sich darum zu ringen zu scheinen, sie kennenzulernen. Sie stehen förmlich Schlange vor ihrer Tür und klopfen unentwegt an, bitten um Einlass, in dieses instabile Konstrukt, das sie ihre Seele nennt, damit sie ihren Müll abladen und diesen heiligen Tempel weiter verunstalten können.

Es wird der Tag kommen – ein besonders anstrengender, mühseliger, nervenraubender, kräftezehrender, auslaugender Tag –, an dem sie nach Hause kommt und ihre erste Amtshandlung darin besteht, sich ein Bad einzulassen. Währenddessen wird sie an die gehässigen Kommentare, die falsch lächelnden Gesichter und die Versicherungen denken, dass ihre Kollegen es doch nicht so meinten, dass sie nur S-S-Späße machen.

Sie wird daran denken und keine einzige Träne vergießen. Nicht, weil sie nicht möchte, sondern weil sie nicht mehr kann. Sie hat keine Kraft mehr, um zu weinen oder überhaupt irgendetwas zu fühlen.

Sie wird sich nur noch in die Wanne legen, das heiße Wasser ihren geschundenen Körper – sie fühlt sich so erledigt, so erschöpft… – umschließen lassen, einen Moment lang die Augen zumachen, tief durchatmen, dann die Rasierklinge nehmen, die sie schon vorbereitet neben sich hingelegt hat, und zwei saubere Schnitte setzen. Sie zittert dabei nicht, weint nicht, fühlt nichts. Doch, eine Sache fühlt sie schon: Erleichterung.

Während die Welt um sie herum langsam verblasst, wird sie sich an diesen einen Jungen erinnern. Wie war sein Name noch gleich? Auch egal… Sie hat ihn klar vor Augen, bis er verschwimmt.

Sie denkt: Mit dir hat es angefangen… mit dir soll es enden…

Sie schwindet dahin.

 

Mami?

Ein Bahnsteig. Trotz der Mittagsstunde zeigt er sich relativ leer. Nur wenige Leute befinden sich hier auf der Reise von Punkt A zu Punkt B oder noch darüber hinaus.

Zu den wenigen gehören auch eine Mutter mit ihrer Tochter, die beharrlich auf den bald einfahrenden Zug warten. Sie sitzen auf einer Bank, die sie ganz für sich allein haben. Die Ältere schaut gelangweilt geradeaus. Sie will nach Hause, ihre müden Glieder hochlegen und ihre wohlverdiente Ruhe genießen.

Die Kleine hingegen ist hibbelig, aufgeregt. Ihr Blick wandert stet von hier nach da und wieder zurück. So ist es meistens. Selten rastet sie, die meiste Zeit befindet sie sich in Bewegung, was ihre Mutter ein ums andere Mal in den Wahnsinn treibt. Wie auch heute.

Die Zeit dehnt sich wie Kaugummi, der Bahnsteig füllt sich nicht wesentlich, dafür fährt allerdings auch kein Transportmittel nach irgendwo hin. Es scheint, als stünde die Welt still. Nur das kleine Mädchen nicht. In ihrem Kopf rasen die Gedanken, während ihr Körper sich ausnahmsweise einmal zurückhält.

Wenig später wird ihrem Geist eine Gelegenheit gegeben, sich zu fokussieren. Etwas, womit er sich beschäftigen kann.

Ein Mann kommt daher und setzt sich neben die Beiden. Er ist nicht wesentlich größer als das Mädchen, aber um gute dreißig Jahre älter. Seine Kleinwüchsigkeit macht ihm nichts aus. Er hat sein Leben damit verbracht und gelernt, sich an seine Umgebung anzupassen. Das mag nicht immer leicht sein, doch was bleibt ihm anderes übrig? Er kann ja schlecht einfach aus der Welt entschwinden; sich an einen anderen Ort wünschen, der seiner Größe gerecht wird. Nicht, dass er das in den dunkelsten Stunden seines Lebens nicht dennoch hin und wieder tut. Erfolglos, versteht sich. Er ist immer noch hier. Wird immer hier sein, bis er es eines Tages nicht mehr ist.

Was er noch nicht gemerkt hat, ist, dass er, seit er sich hingesetzt hat, unverwandt von der Seite angestarrt wird. Nun, nicht ununterbrochen, hin und wieder huschen die Augen des kleinen Mädchens auch zur Seite. Erwartungsvoll suchend, aber nicht findend. Es gibt ihr ein Rätsel auf, das zu lösen ihre oberste Priorität wird.

Irgendwann kann sie nicht mehr an sich halten und spricht aus, was ihr auf der Zunge liegt. „Hey, bist du ganz alleine hier? Wo ist deine Mama?“ Sie kann sich kaum vorstellen, dass dieser kleine Junge – der schon lange kein Junge mehr ist, aber das erkennen ihre kindlichen Augen nicht – hier allein unterwegs ist. Sicher wartet er nur auf seine Mama, die schon bald kommen wird.

Der Mann antwortet nicht, schaut nicht mal zu der Kleinen herüber. Gehört hat er sie allerdings sehr wohl, was an dem leisen Lächeln zu erkennen ist, welches nun auf seinem Gesicht ruht.

Stattdessen reagierte ihre Mutter, die erschrocken zu ihr heruntersieht. „Colien“, flüsterte sie. „Der Mann ist erwachsen.“

Mit heller Miene vernimmt sie diese Worte, ohne dass sich ihr der Sinn dahinter wirklich erschließt. „Aha“, macht sie deswegen, wendet sich wieder ihrem stummen Gesprächspartner zu und fragt erneut: „Wo ist denn jetzt deine Mama?“

Er antwortet immer noch nicht. Erneut wiederholt sich das Spiel mit der Mutter, die dieses Mal etwas energischer zischend versucht, ihrer Tochter zu erklären, dass der Mann bereits erwachsen sei und keine Mama mehr bräuchte, die ihn begleite. Dabei schaut sie entschuldigend zu dem Kleinwüchsigen herüber.

„Aha“, macht die Kleine jedoch nur wieder, wonach sie zum dritten Mal zu ihrer Erkundigung nach der Mama des Mannes ansetzen will.

Allerdings wird sie jäh unterbrochen, als das Rumoren und Poltern eines einfahrenden Zuges erklingt. Der kleine Mann springt als erster auf, wobei er im Gehen in seine Gesäßtasche greift und seinen Geldbeutel hervorholt.

Erstaunt atmet das Mädchen auf. „Mama!“, erklärt sie voll Begeisterung. „Der Mann hat sein eigenes Portemonnaie, der ist ja wirklich erwachsen!“

Trotz des Lärms, den das stählerne Gefährt verursacht, dringen ihre Worte bis zu demjenigen durch, um den es bei dieser Erkenntnis geht. Er lacht leise in sich hinein und denkt amüsiert: Kinderlogik.

Bald schon sollte er nicht mehr darüber lachen. Bald schon, da würde er nie wieder lachen.

Einige Tage später. Wieder ein Bahnsteig, nur dass er dieses Mal vor Menschenmassen aus allen Nähten platzt. Der kleine Mann wartet wie alle anderen auf seine Bahn, er hat seit seiner Begegnung mit Tochter und Mutter nicht mehr an die beiden denken müssen, jetzt schießt ihm diese eine Frage plötzlich durch den Kopf. Wo ist denn deine Mama?

Tot, hätte er antworten können. Schon seit Jahren.

Er vermisse sie, hätte er sagen können, auch wenn er darüber hinweggekommen ist.

Sie war immer eine gute Frau gewesen, hätte er sagen können. Hat sich um ihn gekümmert, ihn gelehrt in der Welt zurecht zu kommen und das trotz seiner Einschränkungen. Sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, hat die Dinge immer beim Namen genannt. Anders als sein Vater, den er nur aus Erzählungen kannte. Erzählungen, die ihn nicht gerade in ein gutes Licht gerückt haben.

Während er so darüber sinniert, füllt sich der Bahnsteig mit immer mehr Menschen. Eine Ansage ertönt, dass es aufgrund eines Notarzteinsatzes zu Verzögerungen im Betriebsablauf kommt. Die Menschen stöhnen verärgert auf. Sie wollen nach Hause oder zur Arbeit oder zu wichtigen Treffen, die keine Verspätung erlauben.

Der Kleinwüchsige nimmt es als schlechtes Omen. Er weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund lässt ihn die Ansage schaudern.

Während die Minuten ereignislos dahinstreichen, werden die Menschen immer unruhiger und das Gedränge immer dichter. Als jemand, der gerade mal halb so groß ist, wie die meisten anderen, wird der zu Kurzgeratene leicht übersehen. In der Enge hat er bald das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, weswegen er sich mühselig nach vorne arbeitet. Jedes Mal, wenn er sich an jemandem vorbeistiehlt und -drückt, schauen die Leute irritiert, ehe ihr Blick nach unten wandert und sie sich hastig entschuldigen und schnell beschämt wieder wegsehen.

Es ärgert ihn, aber nicht allzu sehr, da der Drang, hier rauszukommen und wieder frische Luft atmen zu können, überwiegt.

Schließlich schafft er es. Stolpernd tritt er auf den äußeren Rand des Bahnsteiges, an dem die Menschen vernünftigerweise Sicherheitsabstand halten. Tief Luft holend verspürt er einen Anflug von Erleichterung, der jedoch nicht lange anhält, da es just in diesem Moment hinter ihm zu Bewegungen kommt, bei denen ihn jemand anstößt und er dadurch noch ein paar Zentimeter weiter nach vorne stolpert, näher an den Rand heran.

Verärgert dreht er sich um, schaut hinauf und blickt in leere Gesichter, die stumm geradeaus gucken. Niemand hat etwas gesehen, niemand fühlt sich verantwortlich. Außerdem: Es ist doch nichts passiert, oder? Also krieg dich ein, kleiner Mann! Reg‘ dich nicht auf!

Und überhaupt: Wo ist deine Mama?

Die Frage schallt so laut in seinem Kopf wieder, dass sie ihn ins Schleudern bringt. Zu spät bemerkt er, dass es vielmehr seine Bewegung ist, in der er versucht hat, sich abzuwenden, und über seine eigenen ungeschickten Füße gestolpert ist. Mit den Armen rudernd versucht er sich irgendwo festzuhalten, doch da ist nichts. Nichts und niemand. Niemand, der sich verantwortlich fühlt, dem kleinen Mann zu helfen, der droht in den Abgrund zu stürzen.

Kurz bevor er fällt, hört er sie erneut. Wo ist deine Mama? Dann sieht er sie. Das kleine Mädchen, die unschuldige, kindliche Frage.

Der Aufprall holt ihn in die Realität zurück. Als er sich vom Boden hochstemmt und direkt unter sich die Metallstreben der Gleise sieht, übermannt Panik seinen gesamten Körper. Wie ist er hier unten gelandet? Wie konnte das so schnell passieren? Hat er nicht gerade eben noch oben gestanden, mit sicherem Boden unter den Füßen?

Ich muss hier weg. Ein einfacher, klarer Gedanke, der gefolgt wird von einem irrwitzigem Bild: Er, wie er versucht, sich den Steig wieder hochzuziehen, aber nicht an den Rand herankommt, weil seine Arme nicht so weit reichen. Über ihm die Menschenmassen, die weiterhin Löcher in die Luft starren. Nur nicht nach unten sehen. Wer runtersieht, verliert und muss als Strafe seine helfende Hand darbieten.

Aber so weit kommt es erst gar nicht. Denn wenn das Unglück einen schon packt, dann tut es das richtig. In diesem Fall entscheidet das Schicksal, dass die Geduldigen nun lange genug gewartet haben. Der Notfalleinsatz scheint vorbei, der Zug dürfte weiterfahren. Nur um wenige Augenblicke später den nächsten Notfall auszulösen, über den die Wartenden sich ärgern können.

Als das Geratter und Gepolter und Quietschen ertönt und binnen Bruchteilen von Sekunden immer näher kommt, in denen der kleine Mann sich nicht in der Lage sieht, sich zu bewegen, sein Erhaltungstrieb nicht eingreift, ihn nicht fort an einen anderen Ort bringt (und sei es auch nur wenige Zentimeter weiter), wo er in Sicherheit wäre, schießt ein letzter Gedanke durch seinen Kopf, der schon sehr bald nur noch ein Trümmerfeld sein wird: Mami, wo bist du?

Besser eincremen

Ein Bahnsteig, schon wieder. Erneut verhältnismäßig menschenleer.

Ein weiteres Mal betrachten wir Mutter und Tochter. Sind es die gleichen wie zuvor? Spielt das eine Rolle? Nein. Ob es vor oder nach dem Vorfall, dem tragischen Verunglücken eines gewissen Mannes, der den Kürzeren gezogen hat, geschieht, ist ebenso wenig von Relevanz.

Von Bedeutung ist nur die Situation selbst. Der Bahnsteig, die Bank, Elternteil und Kind. Anders als zuvor ist die dritte Partei, die sich nach einer gewissen Zeit dazusetzt, alles andere als klein, ganz im Gegenteil. Ein breitschultriger, muskulöser und das Mädchen um einige Köpfe überragender Mann nimmt neben ihr Platz. Das sind jedoch keine Eigenschaften, die die Kleine beeindrucken oder ihre Aufmerksamkeit wecken, vielmehr ist es seine Abstammung, die in ihr eine Regung auslöst. Er ist Afroamerikaner.

Sie schielt auffällig unauffällig zu ihm hinüber, zeigt sich also immerhin bestrebt, das Objekt ihrer Neugierde nicht anzustarren – das wäre ja unhöflich, und so viel Anstand hatte man ihr dann doch schon eingebläut. Doch jeder Vorsatz hat seine Grenzen, so auch dieser, weswegen sich ihr Kopf schon wenige Sekunden später verselbstständigt und sie mit großen Augen zu dem fremden Hochgewachsenen hinaufschaut.

„Du bist ja ganz verbrannt“, stellt sie direkt und ohne jede Scham fest.

Neben ihr reißt ihre Mutter erschrocken den Kopf zur Seite und die Augen auf. Ihr liegen diverse Ermahnungen auf der Zunge, doch sie ist zu sprachlos, um sie auch zu artikulieren.

Diesen Zeitvorsprung, der nicht ewig anhalten wird, nimmt die Kleine sich, um mit ihren schmalen Händen, eine der Pranken des Mannes zu umschließen und sanft ihren Rücken zu streicheln. „Musst du dich besser eincremen!“, rät sie mit einer Ernsthaftigkeit, die allein Kindern ihres Alters vorbestimmt ist.

Der Angesprochene erwidert nichts darauf, schaut nur auf das kleine Wesen hinab und lächelt breit. Gutmütig. Danach richtet er seinen Blick auf die Mutter, die helle Miene bleibt. Er signalisiert ihr, dass es schon in Ordnung ist. Sie ist erleichtert, doch gleichzeitig steigt Schamesröte ihr das Gesicht empor. Glücklicherweise wird die Situation entschärft, als ratternd und quietschend der Zug einfährt. Ganz ohne das etwaige winzige Körper unter seinen Rädern zermalmt werden.

Die Wege der drei trennen sich – was vor allem daran liegt, dass die Mutter ihre Tochter zum Einsteigen ein paar Türen weiter als nötig zerrt – und sie sehen sich nie wieder. Nicht im physischen Sinn, zumindest.

Einige Zeit später – Tage? Wochen? Monate? Unwichtig – ist der Mann unterwegs. Zielgerade bewegt er sich auf dem schnellsten Weg, der ihn in sein sicheres Heim bringen soll. Dass er es nie erreichen wird, weiß er noch nicht und hätte man es ihm gesagt, er hätte lauthals schallend darüber gelacht. Er glaubt nicht an Schicksal und erst recht ist er kein Pessimist. Vor allem aber glaubt er an das Gute im Menschen. Bisher hat es ihm nie geschadet. Er selbst ist eine gute Seele – sofern man von der allgemeinen moralischen Vorstellung und dem generell gültigen Gut-Böse-Konzept ausgeht – und der felsenfesten Überzeugung, dass ihm zur Belohnung ebenfalls Gutes widerfahren wird.

Hätte er seine zukünftigen Minuten zweifelsfrei gekannt, er hätte gemeint, Karma wäre eine Bitch und außerdem absolut unzuverlässig. Immerhin hatte das Schicksal, an das er nicht glaubte, nicht bestimmt, ihn unter seine Räder in Form eines stählernen Gefährts geraten zu lassen. Die Alternative jedoch sollte ihm nicht viel besser bekommen.

Nur wenige Straßen von seiner Wohnung entfernt, in der ihn niemand erwartete, weswegen er viel zu spät gefunden werden würde, begegnet er einer Gruppe Männer. Vier Stück an der Zahl, tummeln sie sich in einer wenig besuchten Seitengasse, die von den meisten Menschen nur als Durchgang zur schnelleren Erreichung ihres Ziels genutzt wird.

Sie scheinen Spaß zu haben, lachen viel – oder grölen vielmehr – posaunen laut rum, grinsen breit, fühlen sich stark und jung und überheblich. Sie sind zweifellos betrunken oder zumindest auf gutem Weg dahin. Da die Stunde bereits Abend schlägt, sei es ihnen verziehen. Der Mann lächelt darüber hinweg. Er denkt nichts Böses, auch wenn der Anblick der Vier ihn im ersten Moment kurz hat überlegen lassen, umzudrehen und einen Umweg zu nehmen, vor allem, da sie sein Vorbeischreiten als direkte Provokation ermessen könnten.

Doch das ist albern. Nicht nur das, es wäre ein Eingeständnis, das zu leisten er sich nicht in der Lage sieht. Unter gar keinen Umständen. So wurde er nicht erzogen, oh nein, Sir.

Dieses Eingeständnis lautet keinesfalls Angst – die hat er oder, sagen wir, er ist angemessen um sein Wohl besorgt –, nein, es lautet ganz einfach, dass es einen Unterschied zwischen ihm und diesen vier Männern gibt. Den gibt es, aber nur faktisch, nicht elementar. Es ist ein feiner Unterschied, der im Grunde niemanden etwas ausmachen sollte, es aber eben doch tut, es viel zu oft getan hat und noch viel zu lange tun wird.

Der Unterschied liegt in ihrer Hautfarbe. Seine dunkel, ihre hell. Und natürlich in ihrer Überzeugung. Er glaubt sie wären alle gleich, sie glauben, er wäre der Dreck unter ihren weiß geschnürten, schwarzen Stiefeln. Ganz recht, die vier sind Nazis, wie sie im Buche stehen. Glatzköpfig – oder zumindest kurz geschoren –, draufgängerisch, brutal und gleichzeitig leicht unterbemittelt dreinblickend und natürlich bereit, ihrem Vaterland zu dienen.

Ok, das ist unfair und klischeebeladen. Sicher sind die vier irgendwo in ihrem Herzen mit guten Eigenschaften ausgestattet und nur ein wenig fehlgeleitet. Nur das mit beschränkt lässt sich nicht von der Hand weisen, obgleich hier der Alkohol ihnen sicherlich nicht gerade in die Karten spielt. Anderseits gilt diese Aussage auch nicht für alle, wie der Mann gleich darauf erkennt. Einer der vier ist alles andere als beschränkt, ganz im Gegenteil, seine Augen blicken kalt und berechnend drein. Intelligenz spricht aus ihnen und das macht ihn am gefährlichsten.

Der Anführer, erkennt er. Der, dem die anderen drei blindlings folgen. Hat er sie dorthin getrieben, wo sie jetzt stehen? Hat sie angeleitet? Ihnen einen Weg gezeigt, ihre Wut über die Welt und ihr eigenes, ach so grausames Schicksal auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren? Möglich und durchaus wahrscheinlich. Doch urteilen wir nicht voreilig, ohne alle Fakten zu kennen. Unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen wird. Doch das wird es, und zwar sehr bald…

Der Mann ist nur noch wenige Schritte von der Gruppe entfernt, die erschreckend ruhig geworden ist. Zum Umkehren ist es jetzt zu spät. Wenn er jetzt umdreht, wird die Meute seine Fährte aufnehmen und ihn zerreißen. Er darf keine Schwäche zeigen, aber auch nicht zu viel Selbstsicherheit, da diese wieder als Provokation aufgefasst werden könnte. Als ob das Betreten ihres selbsternannten Territoriums nicht schon schlimm genug wäre…

Da, er tut es schon wieder! Urteilt, obgleich er überhaupt nichts über diese Männer weiß. Andererseits… hätte er das getan, wäre er erst gar nicht den kürzeren Weg entlanggeschritten, sondern bei der Sichtung ihres Vorstrafenregisters freiwillig jeden noch so langen Umweg gegangen. Ganz gleich, wie hoch ein Mensch seine Prinzipien auch hält, ist das eigene Leben in Gefahr, werden diese nur von den Stärksten der Starken auch weiterhin aufrecht getragen.

Jetzt ist es soweit, er erreicht sie, begegnet ihnen, läuft an ihnen vorbei, geht weiter, riecht ihren warmen, vom Alkohol getränkten Atem, spürt ihre Blicke im Nacken, vor allem aber ihre Aggression, ihre Wut und ihre Blutlust. Sie warten nur, warten auf das Kommando, das hoffentlich ausbleibt.

Vergeblich. Seine Hoffnung ist dahin, als eine kräftige Hand ihn von hinten am Kragen packt. Wenn es ein Signal gegeben hat, hat er es nicht gehört. War es ein Nicken gewesen? Oder waren die vier schon so eingespielt, dass es das schon gar nicht mehr gebraucht hat? Ganz gleich.

Was folgt, sind die schlimmsten Prügel, die der Mann je bezogen hat. Er landet selbst ein paar Treffer, geht jedoch schon bald unter den Schlägen nieder und kann nur noch versuchen abzublocken, was da auf ihn einprasselt. Es ist nicht viel. Das Schlimmste dabei sind nicht die Schmerzen, sondern in was für einer Stille es geschieht. Keiner der vier spricht, keiner brüllt, keiner schreit seine Gefühle hinaus. Präzise und gnadenlos verrichten sie ihr Werk, als wäre es ihre Lebensaufgabe. Eine Last, die zu schultern sie sich bereit erklärt haben und die sie stumm ertragen.

Als sie fertig sind, gehen sie einfach. Wortlos. Lassen ihn liegen. Blutend und schwer verwundet. Sie haben nicht einmal mehr einen Blick für ihn übrig. Beschimpfen ihn nicht. Bespucken ihn nicht. Beachten ihn nicht. Als wäre er nichts für sie. Weniger als Dreck, den sie von der Straße gekehrt haben. Ein Nichts. Ein Niemand. Kein Mensch.

Während er in der Gasse liegt und langsam stirbt – er weiß es nicht oder will es sich vielmehr nicht eingestehen, hofft allerdings genauso wenig auf Rettung – schießen ihm die unschuldigen Worte eines Kindes durch das gemarterte Hirn: Musst du dich besser eincremen.

Simpel und doch grausam. Naiv, aber das ist keine Entschuldigung dafür, dass sie auf den Punkt bringen, was mit dieser Welt nicht in Ordnung ist. Wäre er nicht anders, er hätte weiterleben können. Gäbe es keinen Unterschied – den es verdammt noch mal nicht gab! – er wäre unbehelligt an den Männern vorbeigekommen.

Hätten seine Ahnen sich besser eingecremt, die Geschichte hätte womöglich einen anderen Verlauf genommen. Womöglich aber auch nicht. Der Mensch findet ihn immer den Unterschied oder vielmehr den Vorwand, seine Taten zu rechtfertigen.

Dem Mann hilft es ohnehin nicht mehr. Als der Krankenwagen endlich eintrifft, ist er schon mehrere Minuten tot. Die vier Männer werden nie gefasst, oder zumindest nicht aufgrund dieser Tat.

 

Guck mal Mama!

„Guck mal Mama, ein Arschloch!“

Der Satz schallt laut über die Straße. Laut genug, dass der Mann, der damit gemeint ist, ihn definitiv noch hören musste, auch wenn er bereits einige Schritte weit gegangen ist.

Besagte Mama zuckt bei diesem Satz heftig zusammen. Sie erwartet regelrecht, dass der Mann, der sich einige Meter vor ihr befindet, noch einmal umdreht, um ihr einige Takte über die Erziehung ihres Kindes zu erzählen. Er tut es nicht. Strenggenommen reagiert er überhaupt nicht, nicht offensichtlich zumindest, sondern marschiert nur weiter seinen risikofreudigen Weg entlang.

Die Ampel schaltet auf Grün, die Mutter braucht einen Moment, um es zu begreifen. Ehe das Signal, das ihre Augen erfasst haben, ihr Gehirn erreicht, welches wiederum einen entsprechenden Befehl an die Beine weiterleitet, vergeht mehr Zeit als gewöhnlich. Dann jedoch fügt sich alles wieder ins gewohnte Weltgeschehen ein und sie läuft los, den kleinen Mann, der eben so tollkühn seine Feststellung kundgetan hat, sicher an der Hand.

Ich sollte fortan meinen Wortschatz überdenken, ermahnt die Mutter sich. Zumindest sollte sie wohl in der Nähe ihres Kindes nicht mehr leise vor sich hin „Arschloch“ murmeln, wenn ein anderer Erwachsener vor den Augen ihres Sohnes die Straßenverkehrsordnung missachtet und über eine rote Ampel geht. Die kleinen Racker merken sich solche Dinge, ohne ihre Bedeutung zu kennen und, plappern eifrig nach, was sie von der Mama gelernt haben. Eine Lektion, die sie so schnell nicht vergessen wird, so viel steht fest.

Immerhin ein Gutes hat das Ganze: Ihre Erziehung wird insofern Früchte tragen, dass ihr Sohn zumindest sehr lange Zeit strikt geltende Regeln befolgt, ehe er dann irgendwann anfängt, die Nachlässigkeit der alltäglichen Welt anzunehmen und das Gesetz zumindest im Rahmen eines gewissen Sicherheitsfaktors zu beugen. Es wird ihm ein langes Leben bescheren, ein längeres jedenfalls als das des gekürten Arschlochs.

Dieser nimmt sein Leben nämlich viel mehr als Spiel als so manch anderer Mensch. Risikobereitschaft nennt er es, Dummheit wäre der Begriff, der anderen dabei eher in den Sinn käme. So oder so, Fortuna hatte sich ihm gegenüber immer hold gezeigt, was sein Pech sein sollte. Eine einschneidende Erfahrung kann wahre Wunder bewirken und zum Umdenken motivieren, nicht jedoch, wenn sie einem gleich beim ersten Mal das Leben kostet.

Nur wenige Straßen von der „Arschloch“-Straße entfernt – hätte er noch lange genug gelebt, hätte er sicher noch Jahre über diesen einfallsreichen Witz gelacht – und weit weg von Mutter und Sohn, begeht er den bereits fünften Straßenverkehrsregelbruch an diesem Tag, indem er eine knallrote – oder kirschgrüne, wie er es gerne nennt – Ampel überschreitet.

Freilich hat er vorher nach links und rechts gesehen – er ist ja kein Idiot – und befunden, dass der Wagen, der sich mit einer Geschwindigkeit, die eindeutig die zulässige überschritt, trotzdem noch weit genug entfernt war, dass er es riskieren konnte.

Dumm nur, dass er auf halber Strecke auf einmal einen lauten Ausruf hört. „Guck mal Mama, ein Arschloch!“, brüllt jemand so laut, dass er heftig zusammenfährt und für einen Augenblick vergisst, wo er sich befindet. Er geht sogar so weit, den Kopf nach hinten zu drehen, um zu sehen, wer da der Meinung ist, derart laut schreien zu müssen, nur ist der Weg hinter ihm menschenleer.

Er kommt nicht dazu, sich darüber zu wundern, da das nächste, was er hört, die quietschenden Reifen sind, die eine tiefschwarze Bremsspur auf dem Asphalt hinterlassen. Der Bremsweg ist jedoch viel zu lang und die Geschwindigkeit, mit der der Wagen noch über die Straße schleift, viel zu hoch, als dass irreparable Schäden an der menschlichen Anatomie vermieden werden könnten.

Der Aufprall ist hart und laut. Was er nicht mitbekommt, ist, wie er in die Luft geschleudert wird, über dem Autodach dahinsegelt und auf dem felsenfesten Untergrund aufprallt. Erst als schon alles geschehen ist, schaltet sein Bewusstsein wieder auf aktiv und alles, was es registriert, ist das: Schmerz.

Seine linke Hüfte pocht, sein Schädel hämmert, seine Arm – er weiß nicht einmal welcher oder ob es beide sind – schreit, seine Lungen brennen, sein Oberkörper ist eine einzige, rote Welle der Pein und in seinem Verstand blinken alle nur erdenklichen Warnleuchten auf. Er will schreien, ach was, kreischen, brüllen, toben, irgendeinen markerschütternden Laut von sich geben, der das Getöse seines Körpers übertönt, doch alles, was er hervorbringt, ist ein gequälter, kaum vernehmbarer Laut, welcher gefolgt wird von einem Schwall Blut, der sich aus seinem Mund ergießt.

Ein Paar kleiner Füße treten in sein Gesichtsfeld und ein rundliches, zartes Gesicht taucht direkt unter ihm… nein, über ihm… neben ihm? Er hat völlig die Orientierung verloren. Jedenfalls ist da ein Gesicht. Das Gesicht eines Jungen, welches gedeckelt wird von hellblondem Haar und auf dem ein weiches Lächeln liegt.

Der Junge scheint von innen heraus zu leuchten und die Sonnenstrahlen, die direkt hinter ihm scheinen und sein Antlitz umrahmen, vermitteln den Eindruck, Gott hätte einen Engel auf die Erde geschickt. Er konnte es nicht wissen, doch hätte der Mann sich wenige Sekunden zuvor umgedreht, er hätte den gleichen Jungen vor sich gesehen, der ihn zuvor so gedankenlos beleidigt hat.

Aber selbst, wenn er es gewusst hätte, in diesem Augenblick spielt es keine Rolle. Wichtig ist nur, dass der Anblick ihm die Schmerzen nimmt und ihn hoffen lässt, ihn wahrhaft glauben lässt, die Verletzungen – die wahrlich schwer sein müssen, da macht er sich keine Illusionen – überstehen zu können und lebend aus dieser Sache herauszukommen.

Dann jedoch verdüstert sich das Gesicht des Jungen. Das Licht bleibt, sein Haar bleibt hell, seine Züge weich, doch das Lächeln erstirbt und plötzlich wirkt er nur noch kalt, abweisend und mit einem Funkeln in den Augen, das beinahe schadenfreudig wirkt.

Er hebt eine Hand, streckt einen Finger aus, zeigt auf den am Boden liegenden Mann und verkündet mit glockenheller Stimme: „Guck mal Mama, ein Arschloch!“

Und dann erwacht er aus seiner Halluzination. Und dann schreit er, oder versucht es zumindest, doch statt des Geräuschs kommt erneut nur Blut hervorgesprudelt. Zu viel, als dass er es hochwürgen könnte, weswegen ein Teil davon zurück in seine Lungen fließt, welche ohnehin schon mit der roten Flüssigkeit gefüllt sind, da eine Rippe sie durchbohrt hat. Er hustet heftig, verkrampft und stirbt, noch während er das Läuten der Sirene eines Krankenwagens hört.

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