NACHWELT 2018 – Staffel 6 Folge 3 (Hörbuch)

Auf Youtube kann man bei der Entstehung des sechsten und finalen Bandes von NACHWELT 2018 als kostenloses Hörbuch in nahezu Echtzeit dabei sein. Kapitel für Kapitel im 2-Wochen-Takt und in Erstfassung. Natürlich wird im fertigen Buch einiges an Bonus-Material vorhanden sein, aber wer es nicht abwarten kann oder zu faul zum Lesen ist, der ist herzlich eingeladen hier ein Ohr zu riskieren. Die Kernstory wird hier scheibchenweise und medium-rare serviert. Hier geht´s zum Hörbuch:

Hier der Text in unredigierter Erstversion:

– Kostenlos in Band 1 reinschnuppern? –

Ich hing mehr über dem Lenkrad, als dass ich wirklich auf der Maschine saß. Der Vormittag war eben so grau und kalt und nass an mir vorbei gezogen wie die Wolken über mir am Himmel. Trotz des permanenten Nieselregens hatte ich noch immer Brandgeruch in der Nase. Er hing an mir und in meinen Kleidern und in meinen Atemwegen vermutlich auch. Ich fühlte mich schwach und elend und hätte mich am liebsten irgendwo zusammengerollt um, eine Ewigkeit zu schlafen. Aber das kam natürlich nicht in Frage. Aufgrund meiner schlechten Verfassung fuhr ich noch langsamer als ohnehin als ich es ohnehin getan hätte. An meinem linken Bein hatte ich einige großflächige Brandblasen und der Stoff meiner Hose scheuerte bei jeder Bewegung äußerst unangenehm über den Verband, den ich angelegt hatte. Noch immer mied ich die Städte und als Entschuldigung für mein langsames Vorankommen, sagte ich mir, dass die verwilderte Vegetation auf den ehemaligen Landwirtschaftsflächen, auf denen ich mich fortbewegte ein schnelleres Fahren ohnehin verhindert hätte, obwohl ich eigentlich wusste, dass das Quatsch war. Als ich die Triumph zum fünften Mal abgewürgt hatte, hörte ich auf zu zählen. Dem stand der Sonne nach zu urteilen, die ich hinter den Wolken eher schlecht als recht erahnen konnte, musste es um die Mittagszeit sein. Ich sollte etwas essen. Angesichts meines Zustandes vielleicht sogar besser etwas mehr als sonst. Ich ließ meinen schwachen Leib von der Maschine rutschen. Ich befand mich irgendwo zwischen Karlsbad und Remchingen. Die A8 hatte ich gerade überquert und hinter mir gelassen und im Osten und im Süden waren Gebäude in etwa zwei oder dreihundert Metern Entfernung. Umständlich holte ich etwas Konservenfraß aus der Satteltasche. Dort hatte ich nur einen kleinen Vorrat untergebracht. Das meiste war im Rucksack gewesen. Den aber hatte das Feuer sich geholt, genau wie die Gewehre. Ich konnte froh sein, dass mein geheimnisvoller Retter so sorgsam gewesen war, wenigstens den Waffengürtel mit den beiden Pistolen zu retten. Und vor allem, dass er oder sie mir die Waffen zurückgegeben und nicht selbst behalten hatte. Als ich die Dose öffnet, rutschte der Ärmel meiner Jacke nach oben und entblößte die Abdrücke zupackender Finger, an die zu denken ich bisher recht gut vermieden hatte. Heute Morgen, als ich hustend und nackt vor der brennenden Gaststätte erwacht war, hatte ich mich als aller erstes wieder angezogen, sobald ich dazu in der Lage gewesen war. Dann hatte ich zuerst gerufen, und als ich keine Antwort auf meine heiseren Kommunikationsversuche bekam, hatte ich im ersten Licht des Tages damit begonnen, nach Spuren zu suchen. Gefunden hatte ich keine. Zumindest keine eindeutigen. Im Süden des Hauses schien jemand durchs hohe Gras gestreift zu sein. Im Nordosten ebenfalls, aber ich konnte nicht sagen, ob Mensch oder Tier, und direkt vor dem Gebäude hatte ich ja bereits meine eigenen Spuren hinterlassen und ich konnte sie nicht von denen einer etwaigen anderen Person unterscheiden. In der freien Natur war das etwas ganz anderes, als damals auf den schneebedeckten Gleisen mit Rolf. Noch dazu gab ich mir ehrlich gesagt keine besondere Mühe. Jemand hatte mich aus dem brennenden Gebäude gezerrt und war dann verschwunden. Vielleicht hatte er oder sie Angst vor mir oder sonst einen Grund, aus dem kein weiterer Kontakt gewünscht war. Vielleicht war die Nächstenliebe einfach aufgebraucht und mein geheimnisvoller Retter hatte sich wieder seinen eigenen Geschäften zugewandt. Beachtlich fand ich allerdings die Tatsache, dass mein Retter nicht nur mich, sondern auch das Motorrad und meine Kleidung aus dem brennenden Gasthaus geholt hatte. Aber auch ich hatte keine Zeit – Dankbarkeit hin oder her – und vor allem keine Energie, mich weiter damit zu befassen. Wenn er es so wollte, dann sollte es ebenso sein. Nichts dagegen. Hätte bestimmt ohnehin nur weiteren Ärger für mich bedeutet.

Manchmal wenn ich atmete, gaben meine Bronchien immer noch ein hohes, pfeifendes Geräusch von sich. So auch jetzt, als ich kaltes Hühnerfleisch süß sauer in mich hineinstopfte. Das Schlucken tat ein bisschen weh. Atemwegsreizung. Sowas geht vorbei, sagte ich mir. War ja nicht das erste Mal. Kurz dachte ich zurück, an die Zeit während des Krieges. Auch damals hatte es mehr als genug Feuer gegeben. Mein Magen nahm die Nahrung dankbar und glücklicherweise relativ ruhig entgegen. Neben einer leichten Rauchvergiftung hatte ich mit Sicherheit auch einen mittelschweren Kater, und beides summierte sich zu Schwäche und Unwohlsein. Nachdem ich die Dose so gut es ging geleert hatte, entschied ich mich ob dieses Gedankens doch dazu, ein kleines Feuer zu machen. Ich brauchte Flüssigkeit, aber meine Wasservorräte hatten sich im Rucksack befunden. Es gab auch Bäume, die vereinzelt auf dem verwilderten Acker standen. An einer Stelle waren drei von ihnen dicht beieinander und in ihrer Mitte würde ich vor Blicken halbwegs geschützt sein. Ich verstaute die leere Konservendose wieder in der Satteltasche und schob die Triumph mühsam auf die Baumgruppe zu. Dort angekommen ließ ich die Maschine stehen und ging einige Meter zurück, zu einer Pfütze, die ich gesehen hatte und füllte die Dose mit dem bräunlichem Wasser. Es half nichts. Ich musste trinken. Aber so durstig, dass ich das Wasser nicht abkochen würde, war ich dann doch nicht. Das Feuer war angesichts der Witterung recht schnell entfacht, und entgegen meiner Erwartungen hielt sich die Rauchentwicklung in Grenzen. Das zischend Geräusch, das entsteht, wenn Wasser zu kochen beginnt ließ mich an ein warmes Wohnzimmer und einen Teekessel denken. Dann an meine Großmutter. Kamillentee mit Honig war ihre Antwort auf so ziemlich jedes Problem gewesen. Kamillentee oder zur Not auch Apfelwein, je nach Größe des Problems. Dann drängte sich ein neues Geräusch in meine Wahrenehmung und riss mich aus meiner Erinnerung. Es klang gar nicht mal so unähnlich wie das heißer werdende Wasser. Es stiegen bereits die ersten Bläschen auf und bald würde es beginnen richtig zu kochen. Dieses andere Geräusch wurde ebenfalls immer lauter und lauter und schließlich übertönte es das des Wassers ganz. Ich kannte es. Die Drohne. So laut wie heute hatte ich es allerdings kurz vor dem Absturz auf der A5 zum letzten Mal gehört. Sie musste ziemlich tief fliegen. Ob der Pilot mithilfe der Kamera oder irgendeines Sensors auf mein Feuer aufmerksam geworden war? Oder auf das Feuer im abgebrannten Gasthaus? Das hatte mit Sicherheit noch eine für die Drohne erkennbare Hitzeabstrahlung. Verdammt. Ich dachte schon wieder viel zu weit. Auch die Rauchsäule mussten noch vorhanden sein, wenn auch schwächer als zum Höhepunkt des Feuers. Nieselregen hin oder her. Keine Sensoren nötig. Mit dem bloßen Auge bestens zu erkennen. Das Geräusch schwoll weiter an und weiter und weiter. Ich musste mir die Ohren zu halten, so laut wurde es. Dann gibt es wieder ab und ich wagte es, die schützende Mitte der Bäume zu verlassen und mit den Augen den Himmel abzusuchen. Sie flog wirklich ziemlich tief. Für vielleicht zehn Sekunden bewegte sie sich in einer geraden Linie von mir weg. Dann eine enge Kurve. Zuerst dachte ich, sie würde jetzt Richtung Osten verschwinden, aber das tat sie nicht. Aus der Kurve wurde eine Kehrtwende und dann kam sie zurück. Schnell verbarg ich mich wieder, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob das etwas brachte, oder nicht. Was fand der Pilot hier so interessant? Oder war das Fluggerät etwa ganz autark? Folgte es einem einprogrammierten Automatismus? Es war auf jeden Fall – so viel hatte ich sehen können – das selbe etwa drei Meter lange Modell, das uns hinter Viernheim beinahe auf den Kopf gefallen wäre. Eine Bewaffnung konnte ich nicht erkennen. Aber was hieß das schon? Keine Ahnung, ob es etwas brachte oder nicht, auf jeden Fall kauerte ich mich zusammen, machte mich so klein wie möglich. Dann wartete ich. Insgesamt überflog die Drohne mein Versteck vier mal, bevor sie ihren Weg endlich in Richtung Süden fortsetzte. Ich war mehr als erleichtert, sie langsam am Himmel verschwinden zu sehen. Aber auch beunruhigt. Das Wasser kochte jetzt und ich holte es von dem kleinen Feuer. Nachdem es etwas abgekühlt war, trank ich. Bevor ich mein Versteck verließ, löschte ich das Feuer sehr, sehr sorgfältig.

Am späten Nachmittag hatte ich keine besonders große Strecke hinter mich gebracht. Noch immer bewegte ich mich so vorsichtig voran, wie am Vormittag. Zwar hatten das Essen und das Wasser meinen miserablen Zustand etwas gelindert, aber hohen Geschwindigkeiten fühlte ich mich noch immer nicht gewachsen. Vieles nagte an mir. Zum einen natürlich die Drohne und ihr bedrohliches Kreisen am Himmel. Zum anderen das schlechte Gewissen. Ich kroch geradezu Richtung Süden und der Abstand zwischen Wanda, Mariam und mir wurde in meinem Kopf immer größer. Und das war einmal mehr meine Schuld. Niemand sonst trug die Verantwortung dafür, dass ich mich jetzt so hundsmiserabel fühlte und mir nicht zutraute, an Geschwindigkeit herauszuholen, was das Gelände und die Triumph mir eigentlich erlaubt hätten. Zusätzlich nagte noch der Verlust der Gewehre und eines Großteils meiner Vorräte an meinen Nerven. Ich wollte die Siedlungen meiden, aber wenn ich permanent aus Pfützen trinken und mir Zeit zum Jagen nehmen würde, würde mich das zusätzlich aufhalten. Dennoch entschied ich mich – zumindest für heute – meinen Weg durch den Wald fortzusetzen, der vor mir im Süden lag. Für heute und morgen hatte ich noch genug zu Essen. Eine Ortschaft namens Straubenhardt umrundete ich noch, wobei ich die Triumph die meiste Zeit schob. Es war schon dunkel geworden und in der Nähe einer Siedlung wollte ich die Scheinwerfer nicht benutzen. Erst als ich mich etwa zwanzig Meter querfeldein in den Wald hinein gekämpft hatte, aktiviert ich die Zündung ohne den Motor zu starten und nutzte das Licht des Scheinwerfers, um mich etwas zu orientieren. Nach etwa zehn mühsamen und schweißtreibenden Minuten fand ich eine Stelle, wo entweder eine verirrte Bombe oder ein Sturm einige größere Bäume entwurzelt hatte. Die Wurzeln und das Erdreich, das sich noch zwischen ihnen befand, bildeten bei einem dieser Bäume zusammen mit der Kuhle, in der der Baum einmal gestanden hatte, einen überdachten Bereich. Soutterain-Wohnung, musste ich denken und grinste zum ersten Mal an diesem Tag. Auf ein Feuer verzichtete ich diesmal. Stattdessen rollte ich mich in ein Stück Abdeckplane ein, das ich von einem auf den verwilderten Feldern vergessenen Brennholz-Lager mitgenommen hatte.

Wärmetechnisch gesehen, hatte mein Schlafsack-Ersatz ganz gut funktioniert, stellte ich am nächsten Morgen fest. Die Plane hatte Feuchtigkeit ab-und Wärme drinnen gehalten. Allerdings tat mir jeder Knochen im Leib weh, als ich mich langsam aufsetzte.

Es war noch nicht ganz hell, aber dennoch konnte ich meine Umgebung ein ganzes Stück besser wahrnehmen, als gestern Abend im Scheinwerferlicht. Der Boden war dunkel und feucht und die Luft roch gut nach Wald. Was in einem Wald ja auch nicht anders zu erwarten war. Allerdings bedeutete die Tatsache, dass ich den Geruch des Waldes wahrnehmen konnte nicht nur, dass ich mich eben in einem solchen befand, sondern auch, dass sich meine Atemwege vermutlich ein wenig erholt hatten. Soweit ich das durch die Bäume hindurch sehen konnte, stieg das Gelände in Richtung Süden sachte an. Es würde mühsam werden, die Triumph zu schieben, aber ich würde es schon schaffen. Die Bäume standen weit genug auseinander, um mir ein Durchkommen mit der Maschine zu erlauben. Davon abgesehen würde ich bestimmt früher oder später auf einen besser befahrbaren Waldweg stoßen. Ich stand auf und streckte meine Glieder. Ich war wohl etwas zu schnell aufgestanden, denn erneut erfasste mich ein leichtes Schwindelgefühl. Hunger hatte ich auch, aber das war kein Wunder. Erneut angelte ich aus der Satteltasche eine meiner letzten Dosen hervor. Schon wieder Hähnchenfleisch süßsauer. Schon komisch. Süß war immer mehr als nur süß. Sauer war aber niemals wirklich sauer. Höchstens eine Spur von sauer und genauso verhielt es sich auch mit scharf. Scheint, als habe es vor dem Krieg wirklich eine Verschwörung der Zuckerindustrie gegeben. Am Ende kam mir das jetzt zugute. Kaloriensparen war nicht mehr en vogue. Ich brauchte jede einzelne. Kalt wollte ich den Fraß nicht schon wieder in mich hineinstopfen. Von den umgestürzten Bäumen und dem Dach aus Wurzeln, unter dem ich geschlafen hatte, fühlte ich mich ausreichend geschützt, um mir ein kleines Feuer zu erlauben. Mein Hunger ließ mich nicht abwarten, bis das Essen wirklich heiß war. Lauwarm war mir gut genug. Dann machte ich mich, wo das Feuer ja schon einmal vor sich hin glomm, auf, um eine neue Pfütze zu finden. Bei der Gelegenheit wollte ich auch gleich in Erfahrung bringen, was hinter dem ersten Hügel lag, damit ich entscheiden konnte, ob es wirklich am besten wäre, weiter durch den Wald zu reisen, um von der Drohne schwer gesehen zu werden, oder ob es doch besser wäre, wieder hinaus auf die verwilderten Felder, oder vielleicht sogar eine Straße zu gehen.

War mir der Anstieg des Geländes am Anfang sanft vorgekommen, so änderte ich meine Meinung jetzt, wo ich es tatsächlich anging. Ich brauchte länger als gedacht hatte und oben angekommen, musste ich erst einmal verschnaufen. Langsam ließ ich meinen Blick schweifen.

Bäume überall ringsum. Irgendetwas, etwa fünfzehn oder zwanzig Meter entfernt erregte meine Aufmerksamkeit. Ein leichter Anschein von Künstlichkeit. Von Menschenhand. Vorsichtshalber zog ich die Glock aus dem Holster und entsicherte sie, als sich näher heranging.

Es stellte sich als Leiter heraus. Die parallele Anordnung der Sprossen, die mein Gehirn irgendwie durch das Grün hindurch erahnt haben musste, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Die Leiter führte zu einem alten Hochsitz, und ich beschloss sie nach oben zu steigen. Vielleicht hatte dort jemand – der örtliche Jäger vermutlich – irgendetwas Brauchbares deponiert. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass dem nicht so war. Ich stieg die Stufen wieder herab und überlegte, ob ich eine Pfütze gesehen hatte, in der ich die leere Konservendose mit Wasser füllen konnte. Das ganze stank mir allmählich. Spätestens morgen würde ich einen Plünder-Ausflug in eines der Dörfer machen, die südlich von hier auf meinem Weg lagen.

Als ich wieder beide Füße auf den weichen Waldboden gebracht hatte und mich gerade von der Leiter weg drehte, schrak ich zusammen. Das Fluggeräusch der Drohne. Erneut kam es näher. Erneut flog die Drohne tief. Erneut kauerte ich mich zusammen. Ich glaubte nicht, dass sie mich hier im Wald entdeckt hatte, aber sicher ist sicher. Das Kreisen über mir am gestrigen Tage … Irgendetwas schien mir seltsam daran. In der Nacht hatte ich darüber nachgedacht, bis ich schließlich entkräftet eingeschlafen war.

Würde das kleine Flugzeug tatsächlich von einem Computer gesteuert werden – wer tankte es dann auf? Konnte man diese Dinger überhaupt landen? War der Absturz ein Unfall gewesen oder lediglich die logische Konsequenz, bauartbedingt bei dieser Art von Flugobjekten? Und wenn es ein Pilot war, der die Drohne fernsteuerte, was suchte er dann in diesem Gebiet? Irgendetwas hier schien ihn zu interessieren, aber ich hatte auf meinem Weg hierher beileibe nichts gesehen, was für irgend jemanden interessant sein könnte und für einen Luftwaffenpiloten gleich dreimal nicht. Na ja. Zumindest nicht in seiner Eigenschaft als Luftwaffenpilot. Vielleicht ein einzelner Überlebender auf irgendeinem Stützpunkt? Vielleicht suchte er Anschluss? Flog über das verheerte Land hinweg und suchte nach einem Ort, an dem zu leben es sich noch lohnen würde? Ich erinnerte mich, wie ich Gustav, dem toten Gustav, von den Drohnen in Herford erzählt hatte. Vielleicht daher mein fast schon ängstliches Verhalten. Es war grausam gewesen, was die Drohnen mit der Stadt und mit den Menschen darin angerichtet hatten und …

Ich riss mich los von den Gedanken, riss mich los von der damit verbundenen Trauer. Diesmal hatte sie mich nur überflogen. Kein Kreisen über mir am Himmel.

Gut.

Ich stand wieder auf und ging zurück in Richtung meiner neuen Souterrain-Wohnung und meines Motorrads. Wie ich feststellte, hatte ich mich etwas weiter von einem Nachtlager entfernt, als ich eigentlich angenommen hatte. Als ich den Hang langsam nach unten ging und noch etwa zwanzig Meter entfernt war, erschrak ich erneut.

Ein Ast knackte. Bewegung dort unten bei meinem erbärmlichen, kleinen Feuer. Stimmen. Leise und gedämpft. Ich zog meine Waffe. Nein. Nicht meine. Tommys Waffe mit dem Schalldämpfer. Ich hatte sie vorsichtshalber aus der Satteltasche genommen, als ich am vorigen Morgen losgefahren war. Langsam und Schritt für Schritt schlich ich mich näher heran. Jeder Meter, den ich zurücklegte, eine kleine Ewigkeit. Jeder Schritt wohl platziert, um kein Geräusch zu verursachen. Ich ging nicht in einer geraden Linie. Es war nicht mein Ziel, so schnell wie möglich nach unten zu gelangen und eine Schießerei anzufangen. Vielmehr ließ ich mir Zeit, meinen Blick schweifen zu lassen. Ich suchte eine Stelle, von der aus ich alles beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Nach etwa zwei Minuten war ich sicher, dort unten mindestens drei verschiedene Männerstimmen unterscheiden zu können. Sie sprachen nicht laut, aber sie flüsterten auch nicht. Selbstbewusst. Sie schienen keine Angst zu haben, so kam es mir vor, auch wenn ich ihre Worte nicht verstehen konnte. Vielleicht lag das daran, so hoffte ich zumindest, dass die Möglichkeit angegriffen zu werden Ihnen schlicht und einfach nicht in den Sinn kam. Falls dem so war, mochte das im Umkehrschluss bedeuten, dass sie selbst keinerlei aggressive Absichten hegten. Wer bereit ist, selbst Gewalt anzuwenden, nimmt das auch instinktiv von allen anderen an, denen er vielleicht begegnen würde. Dieser Gedanke ermöglichte es mir, nicht in adrenalingetränkte, mühsam unter Kontrolle gehaltene Panik zu verfallen. Dennoch wollte ich mich nicht zu früh zu erkennen geben. Erst musste ich wissen was das für Leute waren. Ich schlich weiter. Fünf Meter von mir entfernt befand sich ein relativ großer Baum, dessen Stamm dick genug war, um mich komplett vor Blicken abzuschirmen. Von dort aus müsste ich die Lage eigentlich ganz gut überschauen können. Im Augenblick schwiegen die Männer. Ich wartete, bis einer von ihnen einen kurzen Satz mit einem fragenden Unterton von sich gab. Eine Antwort würde folgen und mit etwas Glück würde sie die Geräusche meiner Schritte überdecken.

Es gelang.

Ich erreichte den Baum, ohne bemerkt worden zu sein. Meine Bronchien pfiffen immer noch leise und kränklich und in der relativen Stille des Waldes wirkte das Geräusch unangenehm laut. Schleichen ist anstrengender, als man so denkt. Vor allem wenn man ein Idiot ist, wie ich, und dazu neigt, die Luft anzuhalten, wenn man sich bewegt. Ich nahm mir also einige Sekunden, um zu atmen, dann spähte ich um den Stamm herum. Einer, ein Mann in den mittleren Jahren, ein Jagdgewehr an einem Lederriemen über dem Rücken und mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, machte sich an den Satteltaschen der Triumph zu schaffen. Er räumte sie vollständig aus, und teilte seinen beiden Begleitern mit, was er dort fand. Er benahm sich, als habe er alle Zeit der Welt. Ein anderer stand mit dem Rücken zu mir nahe an meinem kleinen Feuer und sah in die Richtung, aus der ich den Wald am Vorabend betreten hatte. Von dort waren sie also wahrscheinlich nicht gekommen. Sicher verfolgte er die Spuren, die das Schieben der Maschine und meine Schritte im Unterholz hinterlassen hatten mit Blicken. Der andere beobachtete eine Stelle am Hang. Vermutlich hatte ich auch dort Spuren hinterlassen. Sie alle trugen dicke Jacken in Erdtönen und auch die anderen beiden hatten jeweils eine Schirmmütze auf dem Kopf und waren mit Jagdgewehren bewaffnet. Einer, der, der am Feuer stand und gerade in die Knie ging, um sich die Hände zu wärmen, hatte es, wie der bei meinem Motorrad, über den Rücken geworfen. Der andere, der den Hang hinauf starrte, hielt es quer vor seinem Oberkörper, die rechte Hand in der Nähe des Abzugs und das vordere Ende der Waffe in der linken Armbeuge.

Jetzt drehte der Mann sich um, und ich erkannte ein junges Gesicht, auf dem gerade mal der erste helle Bartflaum spross. Er sagte etwas zu dem am Feuer, und dieser erhob sich wieder, wobei er sich die Hände gegeneinander rieb.

Jede Begegnung zwischen Menschen mit Waffen birgt ein gewisses Risiko. Auf der einen Seite war ich daher geneigt, einfach abzuwarten, bis sie weiterziehen würden. Auf der anderen Seite allerdings, wollte ich ihnen nicht erlauben, das Motorrad mitzunehmen. Würden sie das versuchen, würde ich wohl intervenieren müssen. Den Inhalt der Satteltaschen – naja. Da ich meine Gewehre nicht mehr hatte und die meiste Reservemunition für die Pistolen am Gürtel oder in den Jackentaschen trug, konnte ich den Verlust der Gewehrkugeln in den Satteltaschen wohl verschmerzen und meine Vorräte waren ohnehin so gut wie aufgebraucht. Den Kram konnten sie von mir aus mitnehmen, wenn mir das einen Kampf ersparen würde.

Ich beobachtete sie für weitere zehn Minuten. Der Inhalt der Satteltaschen war fein säuberlich auf dem Boden aufgereiht worden, und derjenige, der dafür verantwortlich war, trat jetzt neben den Mann am Feuer. Aus irgendeinem Grund fehlten die Patronen. Der Junge mit dem Bartflaum war die ganze Zeit über in dem Bereich, der durch die umgestürzten Bäume abgegrenzt wurde herumgelaufen. Er schien unruhig, fast schon etwas nervös.

Was die Männer wohl hier wollten? Es war noch sehr früh am Morgen. Vielleicht waren sie wirklich im Wald, um zu jagen. Aber warum saßen sie dann hier herum? Vielleicht hielten sie die Begegnung mit mir, beziehungsweise demjenigen, der hier seinen Lagerplatz eingerichtet hatte schlicht für unvermeidlich und wollten auf diese Weise sichergehen, dass sie so friedlich und sicher wie möglich verlief. Machte irgendwie Sinn. Schüsse, die während der Jagd abgefeuert würden, könnten leicht missverstanden werden. So gesehen, war es vermutlich besser, vorher mit einem Fremden, von dessen Anwesenheit man wusste zu sprechen. Einfach, um eventuell tödliche Missverständnisse oder einen Jagdunfall ausschließen zu können.

Vielleicht sollte ich ihnen da ein wenig entgegenkommen, dachte ich. Als der Junge auf eine Aufforderung eines der anderen Männer hin begann, meine bescheidenen Besitztümer wieder zurück in den Satteltaschen zu verstauen, stand mein Entschluss fest. Sie wollten mich nicht bestehlen. Sie hatten lediglich in Erfahrung bringen wollen, um was für einen Reisenden es sich bei dem unbekannten Motorradfahrer handelte.

Langsam richtete ich mich auf und trat um den Baum herum. Die schallgedämpfte Pistole steckte ich zurück ins Holster und machte mich bemerkbar. Der Junge legte sofort auf mich an, und auch die beiden anderen schraken zusammen, ließen aber die Hände von den Waffen weg.

«Hey, ich glaube ihr wartet auf mich. Wäre schön, wenn der Junge das Gewehr runternehmen könnte.»

Der, der meine Satteltaschen inspiziert hatte reagierte als erster und legte von der Seite her seine Hand auf den Lauf des Gewehrs, der augenblicklich gesenkt wurde. Die drei sahen mir zu, wie ich die letzten, etwa fünfzehn Meter den Hügel herunter kam. Die Hände hielt ich sichtbar, zu den Seiten hin ausgestreckt, als ich mich vor ihnen aufbaute. Ich mag es nicht auf so intensive Weise gemustert zu werden, wie die drei es jetzt taten, aber verdenken konnte ich es ihnen nicht. Offensichtlich war das ihr Gebiet. Es lag nur wenig Argwohn in ihren Blicken, aber eine gesunde Portion Vorsicht war durchaus vorhanden. Der Junge hat noch immer den Finger neben dem Abzug, auch wenn der Lauf seiner Waffe jetzt auf den Boden zeigte.

«Habe Wasser gesucht. Wollte es abkochen.», teilte ich Ihnen mit und nickte zum Feuer hin.

«Danke, dass ihr mit Eurer Jagd gewartet habt, bis ich zurückgekommen bin.»

Der, der anfangs am Feuer gehockt und sich die Hände gewärmt hatte, war der erste der antwortete.

«Was führt Dich hierher?», fragte er, während er aus einer seiner Jackentaschen eine kleine Dose Cola hervor holte und sie mir hin hielt. Jetzt, aus der Nähe betrachtet schätzte ich sein Alter auf etwa fünfzig. Vielleicht machte sein Vollbart ihn aber auch älter.

«Ich will nach Süden.», antwortete ich wahrheitsgemäß, nahm die Dose mit einem Nicken entgegen und sah die nächste Frage bereits voraus. Er würde Fragen, wieso ich nicht die Autobahn oder die Bundesstraßen nehmen würde. Sollte ich Ihnen von der Drohnen erzählen? Warum nicht? Wahrscheinlich hatten sie sie ebenfalls in den letzten Tagen bemerkt. Mit Sicherheit sogar.

«Gestern hat dieses kleine Flugzeug mich drei oder vier mal umkreist. Ihr habt es sicher auch schon bemerkt. Fand ich irgendwie unheimlich. Habe Erinnerungen an diese Dinger. Ihr wisst schon … vom Krieg. Da dachte ich, ich bleibe mal lieber ein bisschen im Wald.»

Die zwei älteren Männer – der andere schien noch älter, ging mit Sicherheit schon auf die siebzig zu – nickten, zum Zeichen, dass sie mein Verhalten jetzt nachvollziehen konnten, während der junge seine Aufmerksamkeit auf die nähere Umgebung richtete. Vielleicht hielt er nach Wildschweinen oder Rehen Ausschau. Dann sprach der mit dem Vollbart weiter.

«Wenn Du von hier aus nach Süden gehst, kommst in unserer Stadt.»

«Stadt?»

«Naja. Ortschaft von mir aus. Dobel. Wir hatten ziemliches Glück. Mitten im Wald, und nichts von militärischem Interesse. Hatten wenig Verluste zu beklagen im Krieg. Danach schon ein bisschen mehr, aber jetzt ist alles relativ stabil. Hat sich eingespielt, wenn Du verstehst. Zweihundertacht Menschen. Wir können Dich hinbringen, wenn Du ausruhen möchtest. Siehst ziemlich fertig aus, wenn ich das sagen darf. Wir können auch Deine Maschine tanken. Stimmt doch, Senior?»

Der Angesprochene nickte bestätigend.

«Was wollt ihr als Gegenleistung? Ihr habt ja schon gesehen, was ich bei mir habe. Ich habe nichts zum Tauschen.»

«Oh, dass ist nicht schwer. Wir wollen, dass Du unterwegs von unserer Gastfreundschaft erzählst. Wir wollen, dass mehr Leute kommen und sich bei uns ansiedeln. Wir haben ausreichend leer stehende Häuser und unsere Infrastruktur wird stetig ausgebaut. Wir haben Platz und ein System. Einen Bürgermeister, eine Schule und sogar ein kleines Krankenhaus eingerichtet. Fast wie vor dem Krieg.»

«Einen Bürgermeister, eine Schule und sogar ein Krankenhaus?», wiederholte ich anerkennend. Wäre gut für Euch wenn ihr auch hohe Mauern und noch mehr Waffen hättet, dachte ich, ließ mir aber nichts anmerken.

«Ja. Sogar ein Krankenhaus. Ein kleines, zugegeben. Du … Du bist doch gesund … oder?»

Jetzt mussten sie mich alle drei ganz genau.

«Irgendwie sieht er schon ein bisschen kränklich aus.»

Das waren die ersten Worte, die ich den Jungen hatte sprechen hören. Es kam mir vor, als läge ein drohender Unterton in ihnen. Dann krachten vom Hügel her, von oben in schneller Folge zwei Schüsse. Plötzlich lag dort Rauch in der Luft und überall war Bewegung zu erknnen. Auch die drei Männer kamen in Bewegung. Der Junge hob seine Waffe, um das Feuer zu erwidern und die anderen beiden warfen sich in Deckung. Ich stehe zwischen den Fronten, ging es mir noch durch den Kopf, dann ließ auch ich mich fallen.

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